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cli fi

Klima-Krise-Literatur

Wenn der Dampfer Richtung Eisberg rast, nützt es nicht viel, auf Deck in die andere Richtung zu rennen, um der Katastrophe zu entkommen. Dieses Bild stammt von einem Klimaforscher, der seit Jahrzehnten vor der Erderwärmung warnt. Und wenn unser CO2-System, das an ihr schuld ist, die Erde wirklich in eine Klimakatastrophe steuert, dann trifft das Bild vom Dampfer auch die Lage der Literatur sehr genau: Wenn Literatur weiterhin so tut, als ginge sie die planetarische Gesamtrichtung nichts an, wird sie selbst verschwinden.

»Wenn die Welt gefährlich ist, dann darf die Literatur nicht harmlos sein!«

Und deshalb werden immer mehr Autoren und Autorinnen auf der ganzen Welt wach und fragen - dystopisch: Ist es vorbei mit der Menschheit? Kann uns nur noch eine Ökodiktatur retten? Oder - realistisch: Führt die Klimakrise zum Faschismus? Wie können wir handeln? Welche Mittel müssen wir in die Hand nehmen? Oder - utopisch: Wie ist eine nachhaltige globale Wirtschaft möglich, wenn der Kapitalismus verschwindet? Und kämpferisch: Wenn die Welt gefährlich ist, dann darf die Literatur nicht harmlos sein!

Fragen zwischen Dystopie und Utopie, zwischen Imagination und Wirklichkeit, zwischen Spekulation und Sachbericht - damit beschäftigt sich Climate Fiction oder auch cli fi.

cli fi in der Wissenschaft

Am genauesten verstanden wird cli fi bisher in der Kulturwissenschaft. Besonders im interdisziplinären Feld des Ecocriticism, wo die Beziehungen zwischen Umwelt/Ökologie und Natur/Mensch erforscht werden, wie sie sich in älteren literarischen Traditionen wie Ökopoesie oder Nature Writing zeigen. Aber wo Ökopoesie subjektive Beziehungen zur Tradition pflegt und das Nature Writing die Natur im Blick des Einzelnen thematisiert, da geht es bei Climate Fiction um Zukunft und das Überleben der Kollektive. Climate Fiction sucht Antworten auf die Krise, ein theoretischer Kontext ist politische Ökologie und die soziologische Dimension steht im Vordergrund der literarischen Gestaltung.

cli fi ist keine esoterische Öko-Schule irgendwo am Rand der literarischen Welt.

cli fi wird nicht als Epochenstil, Gattung oder Genre verstanden, es ist auch keine esoterische Öko-Schule irgendwo am Rand der literarischen Welt. Climate Fiction ist erzählende Literatur verschiedener Genres und Gattungen, vom Vers- oder Prosagedicht bis zum mehrbändigen Weltraumepos. Auch kulturelle Ausdrucksformen wie Film, Drama, Graphic Novel oder Computerspiel werden als cli fi betrachtet, wenn sie sich der gleichen Themen und Erzählhaltungen zwischen Utopie und Dystopie annehmen.

cli fi als Gegenstand der Forschung ist relativ neu. Erst seit Anfang des 21. Jahrhunderts steht ein größerer Fundus zur Verfügung, der sich wissenschaftlich lohnt. Weltweit gesehen ist dieser Fundus heute in einem stetigen Wachstum begriffen.

30 Bücher aus dem großen Feld der Klimaliteratur liegen nebeneinander auf dem Boden. In der Mitte beleuchtet ein Spottlicht 
            ein Cover mit der Abkürzung cli fi
Das Foto zeigt die Auswahl der Bücher, die wir auf dem Climate Fiction Festival Berlin als Teil der europäischen Szene vorstellen

Adeline Johns-Putra und Adam Trexler publizierten 2011 den ersten längeren Forschungsartikel zu Klimawandel in Literatur und Literaturkritik ( ↗Climate Change in Literature and Literary Criticism). Aus dem Abstract: "Wir untersuchen, wie die Komplexität von Klimawandel als zugleich wissenschaftliches und kulturelles Phänomen von der Literatur einen ähnlichen Grad an Komplexität einfordert." Daraus folgt, dass eine neue Literatur im Entstehen begriffen sei und dass die Wissenschaft mit neuen Begriffen darauf zu reagieren habe. Dieser programmatische Aufsatz skizzierte 2011 das neue Forschungsfeld.

»Der Klimawandel ist nicht einfach ein "Thema" in der fiktionalen Literatur. Er verändert elementare erzählerische Vorgänge.«

2015 legte Adam Trexler dann die erste analytische Monografie vor mit dem Titel ↗"Anthropocene Fictions. The Novel in a Time of Climate Change", für die er über 150 Titel mit Bezug zum Klimawandel untersucht hat. Nur zu einem kleinen Teil sind sie Science Fiction, Fantasy oder Speculative Fiction. Trexler konkludiert:

"Der Klimawandel ist nicht einfach ein "Thema" in der fiktionalen Literatur. Er verändert elementare erzählerische Vorgänge. Er unterläuft die Passivität des Ortes, erhebt ihn zu einem Akteur, der selbst von Weltsystemen geschaffen ist. Er verändert die Beziehungen zwischen Charakteren und führt ganz und gar neue Dinge in die Literatur ein."

Im Sammelbegriff Climate Fiction ist also auch die klassische Unterscheidung zwischen E-Literatur (ernsthaft) und U-Literatur (unterhaltend, Genre) aufgehoben. Heute gibt es zahlreiche Fachaufsätze, Essaybände, Anthologien für Seminare und Monographien über Climate Fiction, der Begriff setzt sich durch.

»Geschichten sind Formen der Sinngebung mit der Kraft, die Leser und Leserinnen zu motivieren und zu mobilisieren.«

Axel Goodbody, Professor Emeritus an der Universität Bath und Mitbegründer der einflussreichen European Association for the Study of Literature, Culture, and Environment (↗EASLCE), publiziert seit Jahrzehnten zum Thema. Er hat insbesondere für die Forschung über deutsche Klimaliteratur ergo Climate Fiction Pionierarbeit geleistet. 2019 schreibt er als Herausgeber des Sammelbandes ↗"Cli-Fi. A Companion" (gemeinsam mit Adeline-Johns Putra):

"Ähnlich wie die Geschichten von Gender-Identität, so organisieren die Geschichten über die globale Erderwärmung unsere soziale Realität durch einordnende Fiktionen (regulatory fictions). Sie stellen metaphorische Konzepte zur Verfügung, durch die wir Klassen von Objekten und Identitäten definieren und konstituieren können und dadurch erfahren, wie das Problem zu formulieren ist. Geschichten sind Formen der Sinngebung mit der Kraft, die Leser und Leserinnen zu motivieren und zu mobilisieren."

cli fi in den Medien

Der amerikanische Journalist und Kritiker Dan Bloom, heute mit Wohnsitz in Taiwan, hat den Begriff Climate Fiction eingeführt und erklärte einmal, für ihn zähle angesichts der Relevanz des Themas nur noch diese Art von Literatur. Dan Bloom sagt in einem Interview mit David Thorpe/Smart Cities Dive:

"Cli-fi ist immer noch ein so neuer Begriff, dass nur 10% der Bevölkerung jemals davon gehört hat. Und solche Filme und Bücher, die als cli-fi gelten, erscheinen nicht auf dem Radar von Mainstream-Rezensenten und Filmkritikern."

Auf seiner Website ↗www.cli-fi.net hat Bloom viele anglophone Akteure der Szene weltweit vernetzt. Heute schreiben immer mehr Autor*innen in anderen Sprachen Climate Fiction, aber Blooms Website ist noch immer ein gefragter Umschlagplatz für Neues aus der cli fi Szene.

»Cli-fi ist immer noch ein so neuer Begriff, dass nur 10% der Bevölkerung jemals davon gehört hat«

Die ganz neuen Bücher im anglophonen Bereich der Climate Fiction sind das Fachgebiet von Amy Brady. Seit 2017 publiziert sie in ihrer nach J.G. Ballards Roman benannten Monatskolumne ↗Burning Worlds jeden Monat Beiträge zu Climate Fiction Neuerscheinungen, meist ein Interview mit dem/der Autor*in.

Den Anfang machte Kim Stanley Robinson mit seiner Science Fiction-Utopie "New York 2140". Hier geht es um den Kampf zwischen den Überlebenden in Lower Manhattan, das fünfzehn Meter unter Wasser steht, und dem ebenfalls die Klimakatastrophe überlebenden Finanzkapitalismus. 2020 geht es bei Ann VanderMeer um Künstliche Intelligenz und Klimawandel, bei David Irvine um Robotics and Climate Change, bei James Bradley um Geister-Spezies oder bei Charlotte McConaghy um eine Weltreise mit den letzten Küstenseeschwalben von Pol zu Pol und in das Innere des Selbst.

In der deutschsprachigen Medienwelt entwickelt sich erst langsam eine gewisse Kontinuität in der Wahrnehmung von Climate Fiction. Die Kritiker*innen und Autor*innen im ↗CLIMATE CULTURES network berlin sind naturgemäß intensiver bei der Sache. Die Verlage gehen mit einer steigenden Anzahl von Übersetzungen mit, aber auch deutschsprachige Neuerscheinungen häufen sich.

Es ist sicher kein Zufall, dass sich auffällig viele Debütant*innen dem Thema zuwenden. Denn die jüngste Generation motiviert weniger die Nabelschau in prekärer Gegenwart, als das Betroffensein von einer vielleicht katastrophalen Zukunft. Die erste Generation mit derart geschärftem Umweltbewußtsein ist sie jedoch nicht. Franz Hohler hatte schon 1973 den Weltuntergang im Blick.

Der schweizer Dichter Franz Hohler 
            trägt bei einer Veranstaltung sein Gedicht "Der Weltuntergang" vor
↗Video mit Franz Hohler bei YouTube

Climate Fiction findet sich abgesehen von einigen ganz frühen Beispielen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Zum Beispiel der dystopische Science-Fiction Roman "Burning Worlds" von J.G. Ballard aus dem Jahr 1962. Dazu zählen auch Namen wie Max Frisch (Der Mensch erscheint im Holozän, 1980), Ignacio Brandao (dt. Kein Land wie dieses, 1990), David Brin (Earth, 1990), George Turner (dt. Sommer im Treibhaus, 1991) oder Ursula LeGuin mit vielen ihrer Werke. Wir können diese Werke im Kontext der Climate Fiction neu lesen. Insbesondere die amerikanischen Romane stehen zugleich in einem Zusammenhang mit der früh aktiven Umweltbewegung und ihrem vielfältigen kulturellen Engagement. Der Varietékünstler Tiny Tim warnt bereits 1968 vor dem Klimawandel in seinem Lied "The Other Side".

Der amerikanische Varietékünstler Tiny Tim tritt mit seinem Lied 
            "The Other Side" in einer Kindershow im Fernsehen auf
↗Video mit Tiny Tim bei YouTube
↗The Other Side (Liedtext)

Weitere bekannte Werke sind zum Beispiel T.C. Boyle (Ein Freund der Erde, 2000), Margret Atwood (MaddAddam Trilogie 2003-2013), Kim Stanley Robinson (Green Earth, 2015 und viele weitere), Steven Amsterdam (Things we didn't see coming, 2009), Barbara Kingsolver (dt. Das Flugverhalten der Schmetterlinge, 2014), Jeanette Winterson (The Stone Gods, 2007) oder Alexis Wright (The Swan Book, 2013).

Warum cli fi?

cli fi ist die notwendige Literatur unserer Zeit. Sie ist zugleich die anspruchsvollste Literatur, wenn sie mit ihren Mitteln auf die größte Gefahr antworten kann, auf die Drohung eines globalen ökologischen und zivilisatorischen Kollapses. Es ist ein Thema mit absoluter Relevanz, das in seiner Totalität ein großes Problem aufwirft: In einer oder gar der perfekten Erzählform ist es nicht zu fassen. Deshalb geht es bei der Produktion von cli fi meist nicht um den großen Klimawandel-Roman, sondern zunächst um die vielen literarischen Formen in der Fläche, also das literarische Herangehen an lokale Themen, Ereignisse und Perspektiven.

Als Leser dagegen können wir immer eine Lektürehaltung der Globalität einnehmen. Wer das Klima in der Literatur sucht, wird es finden, überall und in wechselnden Formen. In der Science Fiction, im Zukunftsroman und in der Otherworld-Fantasy haben die Literat*innen vor einer schlimmen Zukunft gewarnt, heute stellen sie die reale Krise fest. Sie machen Klima und Kritik zum Angelpunkt des aufrichtigen Schreibens und werden zur Avantgarde eines neuen Global Climate Writing.

Auf dem Climate Fiction Festival 2020 in Berlin stellen wir einige ihrer europäischen Vertreter*innen als Teil einer weltweiten Strömung vor.