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Siri Ranva
Hjelm Jacobsen

Portrait der Schriftstellerin Siri Ranva Hjelm Jacobsen
Photo credit Kajsa Gullberg

»Ich träume von der großen Spiegelkugel, zu der die Erde werden wird, wenn wir uns wieder treffen.«

Siri Ranva Hjelm Jacobsen (*1980) ist eine dänische Schriftstellerin und Literaturkritikerin. Sie lebt in Kopenhagen. Ihre Familie stammt von den Färöern, eine Inselgruppe im Nordatlantik, die zur dänischen Reichsgemeinschaft gehört. In ihrem Roman "Ø" (Insel, 2016) verarbeitet sie diese Migrationserfahrungen. Auch in ihrem Prosapoem "Havbrevene" (Die Meeresbriefe, 2018) ist die Natur beseelt, doch werden hier die Naturgewalten zum Akteur: Die Meere beginnen zu schreiben.

»Liebes M.
Du schreibst mir vom Sommer und das tat kürzlich auch die Arktis. Sie nährt ihre Kühe dort oben und wenn ihre Zeit kommt zu kalben, dann steigt ihre Spannung. "Im ersten Morgengrauen des Jahres erheben sich die Küsten wie Wartende an Bushaltehäuschen." So schreibt sie. Ich weiß nicht was sie damit meint. Sie fängt an etwas unstabil zu wirken, finde ich. Was die Jahreszeiten betrifft, so fällt es mir schwer mich auf sie auszurichten. Sie sind da, manchmal wechseln sie. Ich folge der Nacht mit dem Blick. Ich sehe wie die Pflanzen vorbeifließen. Die Nebel da oben, orange und rosa. Leuchtende Algen in schwarzem Wasser. Ich träume von der großen Spiegelkugel, zu der die Erde werden wird, wenn wir uns wieder treffen. Was die Krabbler angeht – ich höre deine Sorge. Keiner von uns konnte diese Beschleunigung voraussehen. Tröste dich damit, dass alles nach Plan geht. Vielleicht nicht wie wir glaubten, aber wie wir wollen.
A.«

(Siri Ranva Hjelm Jacobsen: Havbrevene, Lindhardt & Ringhof 2018. A ist der Atlantik und M das Mittelmeer.)

In Siri Ranva Hjelm Jacobsens ökozentrischem Prosapoem "Die Meeresbriefe" erscheint die Erde selbst als Subjekt. Genauer gesagt sind es die Ozeane Mittelmeer und Atlantik, briefeschreibende Schwestern mit einem universalen Verschwörungsplan. Wobei sie doch recht verschieden sind: Der abgeklärte und kalte Atlantik träumt - ein schwerer Traum seit 180 Millionen Jahren - unentwegt von der Wiedergeburt des allesverbindenden Urmeeres; er verabscheut nichts mehr als die Menschheit. Das zartere Mittelmeer mit seinen nur 5 Millionen Jahren dagegen empfindet durchaus noch Mitleid mit diesen Kreaturen - vom tragisch abgestürzten Ikaros bis zu den Klimaflüchtlingen unserer Zeit. Aber unbeirrt verfolgen die beiden Meere den Plan, die Erde aufs Neue zu überfluten - und dabei kommt ihnen die Erderwärmung sehr gelegen. Was dem Menschen als realer Horror erscheint, ist für die derart imaginierte Natur – sprich die Ozeane – eine Utopie.